Werkspost, 2. Ausgabe, November/Dezember 2012 Gerd Rosenacker Ein Ingolstädter, der Ingolstadt noch nicht verlassen hat, hat gute Gründe. Dennoch haftet ihm ein Makel an; ein dunkler Fleck in seiner Biografie, den er erst bemerkt, wenn er von einem Exilanten zwischen o2-Store und Ganghofer gefragt wird: „Du bist also noch hier?“ Der Ingolstädter gibt Auskunft. Es ist ein überzeugender Vortrag, gleichsam routiniert und plausibel. Der sichere Arbeitsplatz. Die Kinder. Das soziale Umfeld. Schlicht: Man fühle sich wohl hier. Das Gegenüber, ein Ingolstädter, der in München studiert hat, dort blieb und die Transformation zum Münchener vollzogen hat, nickt verständnisvoll. Das Leben in einer Kleinstadt, pardon, Ingolstadt sei ohnehin lebenswerter. Herrje, die Großstadt. Zu laut, zu eng, zu anonym. Von den Mietpreisen ganz zu schweigen. In seinem Gesichtsausdruck jedoch liegt etwas Mitfühlendes; er ähnelt dem Blick einer Mutter, die ihrer 9-jährigen Tocher erklärt, warum eine Zahnspange eine ganz feine Sache sei. Als sich die beiden voneinander trennen, sieht der Ingolstädter dem Münchener nach. Man ist immer noch hier, und wird es, wenn kein Wunder geschieht, für den Rest seines Lebens bleiben. Ein Sitzenbleiber. Eine Dorfpomeranze, die den letzten Bus verpasst hat. Den Bus in die große weite Welt, die der Münchener nun sein Zuhause nennt. Ein Zuhause, das jährlich 100 Millionen Touristen anzieht. Kultur. Architektur. Nachtleben. Biergärten. Jobs. Isar. Englischer Garten. Flaucher. Glockenbachviertel. Gärtnerplatzviertel. Berge. Stachus. Marienplatz. Oktoberfest. Augustiner. FC Bayern. Monaco Franze. Spider Murphy Gang. Die Hackerbrücke bei Sonnenuntergang, unter der minütlich Züge nach Moskau, Mailand und Madrid aufbrechen - beispielhaft für die Möglichkeiten, die sich minütlich auftun. In Ingolstadt hingegen fahren die Züge nur in zwei Richtungen: nach München und nach Nürnberg. Touristen sieht man selten. Im denkbar unwahrscheinlichen Fall, ein amerikanisches Seniorenpärchen verirrte sich hierher: Was würde man mit ihnen unternehmen, nachdem sie Herzogskasten, Münster und das Neue Schloss fotografiert haben? Minigolf am Auwaldsee? Shopping im Westpark? Die Herrschaften kämen kein zweites Mal. Warum ist man dann noch hier? Weil es sich so entwickelt hat. Wie der Rest. Man wurde weder Astronaut noch Meeresbiologe. Man hat kein Haus in St. Tropez und kein Apartment in London. Stattdessen lebt man ein durchschnittliches Leben in einer durchschnittlichen Stadt. Endstation Mittelmaß. Etwas anderes zu behaupten, wäre zwecklos; an jedem Ingolstädter Tisch sitzt mindestens einer, der Bescheid weiß. Die Stadt weiß, was du tust, wie du wohnst, wieviel du verdienst. Haste was, biste was: ein Ingolstädter Naturgesetz, gemeißelt in den Stein, den der Teufel einst auf das Münster schleuderte. Zugegeben, ein paar Groschen im Sparstrumpf zu haben, schadet auch in München nicht. Wohnraum, Lebensmittel, Kleidung und U-Bahntickets sind deutlich teurer als im Rest der Republik. Wegen einer Bevölkerungsdichte, die mit 4.440 Einwohner je Quadratkilometer den Rekord in Deutschland (durchschnittlich 231 Einwohner/km2) stellt - und jährlich in einem solchen Maß ansteigt, dass Oberbürgermeister Christian Ude von „einigen Stressphänomenen“ spricht, an denen die Stadt zunehmend leide. Seit 1982, als die Spider Murphy Gang mit „Sommer in der Stadt“ die Münchener Hymne aus der Taufe hob, haben sich die Dinge geändert. Wer dieser Tage am Chinesischen Turm Bier zu trinken gedenkt, sollte einige Wochen vorher reserviert haben. Wer heute mit dem Fahrrad am Isarstrand ankommt, denkt an Antonia Rados und an eine RTL-Sondersendung aus einem jeminitischen Flüchtlingslager, in dem neonfarbene Sonnenbrillen verteilt wurden. München ist eine Stadt, in der man sich mit einem Stehplatz zufrieden geben muss. Es ist wie mit dem Hasen und dem Igel: Egal, wohin man geht - die anderen sind schon da. Am Raucher. Im Englischen Garten. Im Kino. Im Biergarten. Im Supermarkt. In der Kneipe. Im Winter wie im Sommer. Auch die Rolling Stones lassen sich seither seltener blicken. Den kapriziösen Charme, der München in den 70ern zur Weltstadt machte, ist verschwunden; statt „Swinging Munich“ heißt es jetzt „Laptop und Lederhosen“. Christine Neubauer statt Uschi Obermaier. Aperol Sprizz statt Kir Royal. Kunstpark Ost statt Schwabing, das zwischen Verwaltungsbauten, Sonnenstudios und bourgoiser Boheme längst nicht mehr swingt, sondern zutiefst deprimiert. Früher war sicher nicht alles besser. München war es. Unter der hermetischen Käseglocke, die über Ingolstadt liegt, bekommt man immer einen Sitzplatz. Und wer hier sitzt, muss sich keine Sorgen machen, etwas zu verpassen. Vielleicht ist man deswegen noch hier. Auf der Schanz. Wo man auch jemand ist, wenn man nicht mit Bären gerungen hat. Wo man neonfarbenen Sonnenbrillen mit derselben Skepsis begegnet, die man Kulturprojekten entgegenbringt. in deren Konzept das Kapitel „Return-of-Investment“ fehlt. Wo man sich Zeit nimmt für die charakterlichen Unebenheiten seiner Mitmenschen, weil die Alternativen rar sind. Wo man das Radio etwas lauter dreht, wenn Dean Martin „Watching The World Go By“ singt.